Von Dr. Herbert Gruhl
1983 schrieb Herbert Gruhl diesen Text, der als Flugblatt der Ökologisch Demokratischen Partei (ÖDP) verteilt wurde und es sogar als Essay in den Spiegel Nr. 25/1983 geschafft hat. Die Aussagen dürfen nicht in Vergessenheit geraten.
Ludwig Erhard war stets das große Idol der Unionsparteien, ein Idol, das zeitweilig an Leuchtkraft sogar Konrad Adenauer übertraf. Noch auf den Parteitagen der siebziger Jahre brach Jubel los, wenn nur sein Name fiel. da wurden sogar Augen feucht. (Anmerkung: Gruhl war bis zu seinem Parteiaustritt 1978 Abgeordneter der CDU im Bundestag und dürfte hier als Augenzeuge berichten.)
Noch heute berufen sich Unionspolitiker gern auf Ludwig Erhards Vermächtnis, bis heute gilt der erste Wirtschaftsminister der Bundesrepublik als ideologischer Gründervater der christlichen Parteien.
Bei dieser stolzen Traditionswahrung scheint scheint bis heute niemanden aufgefallen zu sein, wie vollständig die Politiker von CDU/CSU die Grundsätze Ludwig Erhards verraten haben. Die Union hat Erhards Marktwirtschaft durch Wachstumswirtschaft ersetzt. Doch Marktwirtschaft und ständige Wachstumswirtschaft schließen einander aus. Ludwig Erhard hat dies, wie sich belegen lässt, oft genug festgestellt.
Erst in den Jahren nach Erhard wurde das sogenannte wirtschaftliche Wachstum zur Grundlage einer funktionierenden Wirtschaft erklärt, wurde es zur Grundlage einer funktionierenden Wirtschaft und überhaupt des Staates hochgejubelt. "Wenn Nullwachstum einträte, bedeutete das das Ende der Gesellschaftsordnung, in der wir leben", schrieb 1979 Walther Leisler Kiep (CDU).
Fast gleichlautend hatte es Hans Friedrich (FDP), der Bundeswirtschaftsminister von 1974 bis 1977, verkündet: "Ein Nullwachstum bis 1985 löscht die Demokratie bei uns aus." Der bayerische Ministerpräsident Franz Josef Strauß (CSU) prophezeite 1980 für den Fall, dass "es nicht gelingt die Kernkraft als Energieträger auszubauen", schauerliches: "Wir werden miterleben, dass innerstaatliche Ordnungen zerbrechen und in der Revolution der Unzufriedenheit untergehen werden."
Dass Politiker, die sich als die Hüter der sozialen Marktwirtschaft aufspielen, für den Fall des "Nullwachstums" Revolution und Untergang voraussagen, beweist, dass sie ihren Erhard nie begriffen haben. Sie gehören samt und sonders zu den Leuten, die Erhard als "Wachstumsfetischisten" bezeichnet hat. Erhard hat nie das "wirtschaftliche Wachstum" zum Ziel der Wirtschaftspolitik erklärt.
In dem Buch "Soziale Marktwirtschaft - Ordnung der Zukunft", das von Ludwig Erhard und Alfred Müller- Armack im Jahre 1972 herausgegeben wurde heißt es:
"Es ist also nicht wahr, dass eine Marktordnung, wie die soziale Marktwirtschaft, wesentlich auf die Maximierung des Sozialproduktes oder sonst eines Einzelzieles gerichtet ist. Sie ist auf überhaupt kein Ziel gerichtet, als nur auf das eine, ein geordnetes Zusammenleben der Menschen zu ermöglichen, damit jeder seine eigenen Ziele überhaupt erst mit grundsätzlicher Aussicht auf Erfolg verfolgen kann.....
Glaubt eine Mehrheit von Menschen, Konsum und Wirtschaftswachstum bedeute höchste Lebenserfüllung, so wird die Marktwirtschaft auch die bestmögliche Verfolgung der Ziele Konsum- und Wachstunsmaximierung ermöglichen. Aber sie ermöglicht genauso die Verwirklichung ganz anderer werte durch eine Mehrheit oder Minderheit ihrer Mitglieder."
Erhards Einwände lauten weiter:
"Es ist ökonomisch höchst naiv, die Messziffer für das Wirtschaftswachstum, die reale Veränderungsrate des Bruttosozialproduktes, in irgendeiner Weise mit der Vorstellung zusammenzubringen, dass die "kollektive Wohlfahrt" gesteigert werde."
Erhard und Müller- Armack sprachen 1072 in ihrem Buch abfällig von "Wachstumsratenpolitik". Die Steigerung des Bruttoszialproduktes, so heißt es ausdrücklich, kann "kein sinnvolles Ziel einer sozialprogrammierten Marktwirtschaftspolitik sein". Erhard verwendet den Begriff "Wirtschaftswachstum" fast nie. Wenn er es 1961 noch für möglich hielt, den Wohlstand zu mehren, so so stellte er sich doch Wandlungen des Weltbildes und des Lebensgefühls vor. Es könne, so schrieb er, "nicht der Sinn des Lebens und der uns gestellten geschichtlichen Aufgabe sein, noch einmal eine Verdoppelung des Konsums von Gütern - und sonst nichts - zu erreichen".
Ludwig Erhard hatte sehr wohl begriffen, dass sich seit Beginn der sechziger Jahre in der öffentlichen Meinung und nach 1966 auch in der Politik ein Wandel vollzog. Gerade in Deutschland hatte das sogenannte Wirtschaftswunder eine allgemeine Begeisterung erzeugt. Als das Wunder in der Wirtschaftskrise 1966 erstmals seine Wirkung einbüßte, beeilte sich der Deutsche Bundestag, steigenden Wohlstand für alle Zeiten gesetzlich festzuschreiben. Doch das 1967 beschlossene "Gesetz zur Förderung der Stabilität und des Wachstums der Wirtschaft" befindet sich im Widerspruch zu allen Gesetzen der Logik, der Natur und auch der Marktwirtschaft.
---Wenn etwas immerzu wächst und wächst, dann führt das nicht zu Stabilität, sondern zu Instabilität; denn es kann nur auf Kosten anderer Bereich immer größer werden.
---Das echte Wachstum der Natur bleibt im Gleichgewicht mit den Gegenkräften: Verfall und Tod.
---Die Marktwirtschaft ist eine sich selbst regelnde Wirtschaftsordnung, in der sich Angebot und Nachfrage immerzu einpendeln. Die Preise üben dabei regulierende Funktion aus. Das heißt, dass die sinkende Nachfrage ebenso hinzunehmen ist, wie die steigende.
Wenn der Staat verpflichtet wird, stets einzugreifen, sobald die Nachfrage nicht mehr steigt, dann wird aus der freien Marktwirtschaft eine Staatswirtschaft. Der Staat verhält sich dann so wie die Planwirtschaften des Ostens, er programmiert Steigerungsraten. Das Stabilitäts- und Wachstumsgesetz bricht daher mit der Marktwirtschaft.
Das Gesetz war am 14.09.1966 mit einer Rede des Bundeskanzlers Erhard im Bundestag eingebracht worden - damals als "Gesetz zur Förderung der Stabilität". Die folgenden Ereignisse wurden auch zur Schicksalsfrage der deutschen Wirtschaft: Ludwig Erhard musste im Dezember 1966 zurücktreten.
In der großen Koalition wurde Karl Schiller (SPD) Wirtschaftsminister und Franz Josef Strauß (CSU) Finanzminister. "Aus dem gemeinsamen Gespräch zwischen Bundesfinanzminister und Bundeswirtschaftsminister" (Schiller) entstand ein Gesetz mit neuer Zielrichtung. darin heißt es jetzt: "Die Maßnahmen (des Bundes und der Länder) sind so zu treffen, dass sie im Rahmen der marktwirtschaftlichen Ordnung gleichzeitig zur Stabilität des Preisniveaus zu einem hohen Beschäftigungsstand und außenwirtschaftlichen Gleichgewicht bestetigen und angemessenen Wirtschaftswachstum beitragen."
In dieser Form wurde das Gesetz am 10.05.1967 vom Bundestag verabschiedet. Die Abgeordneten aller Parteien stimmten dafür, also auch die der oppositionellen FDP. Nur einer enthielt sich der Stimme, der CDU- Abgeordnete Dr. Otto Schmidt. er hatte immerhin erkannt, dass mit Hilfe der öffentlichen Finanzen großzügige Wirtschaftspolitik betrieben werden sollte.
Warum hat Ludwig Erhard, CDU- Abgeordneter und -Präsidiumsmitglied, gegen diese Entwicklung nicht Widerstand geleistet? Er hat weder in der abschließenden Debatte gesprochen, noch wird er im Protokoll erwähnt.
Die Antwort liegt nahe. Erhards Einfluss war nach dem Rücktritt gleich Null. Es wäre ein hoffnungsloser Versuch gewesen, die Entwicklung noch beeinflussen zu wollen. Somit nahmen die Dinge ihren schicksalhaften Verlauf. Karl Schiller (SPD) verkündete in seiner hochtrabenden Sprache "eine zweite Phase der marktwirtschaftlichen Ordnung" und "den Übergang von einer konventionellen Marktwirtschaft zu einer aufgeklärten Marktwirtschaft". In Wahrheit hatte Bonn die Marktwirtschaft in eine Wachstumswirtschaft umfunktioniert. Es war eine staatlich zu dirigierende Wirtschaft etabliert worden. Denn wie anders, als durch staatliche Eingriffe sollte der Staat seine neue gesetzliche Aufgabe, stets für Wachstum zu sorgen, erfüllen?
In diesen Vorgängen wird der tiefere Grund des Zwiespalts offenbar, der zwischen Erhard und seiner Partei 1966 aufgebrochen war. Die Partei begeisterte sich geradezu für die Wachstumspolitik; doch Erhard wusste um die Unmöglichkeit eines dauernden wirtschaftlichen Wachstums. Er sprach vom Maßhalten und erntete den Spott der Welt, die heute langsam zu begreifen beginnt, wie recht er hatte.
Ludwig Erhard hat deutlich vorausgesehen, was die Unterordnung der Wirtschaft unter den Wachstumszwang bedeuten würde. Er hat erkannt, dass Planung dann notwendig wird; dass der Staat von der Globalbesteuerung in die detaillierte Lenkung immer kleinerer wirtschaftlicher Einheiten gerät.
Das alles bewahrheitet sich heute. Bund und Ländern wird zur Zeit nicht nur die Verantwortung für einzelne Branchen, sondern sogar für einzelne Firmen aufgehalst. Wir sind Zeugen einer Kettenreaktion der Hilfen ohne Ende - wobei die Mittel- und Kleinbetriebe erst recht auf der Strecke bleiben.
Erhard erkannte auch, dass die Wachstumspolitik den Interessen der Produzenten mehr dient, als denen der Konsumenten. In jeder wachsenden Wirtschaft wachsen die Großbetriebe überproportional, die Zentralisation nimmt zu. In dem von Erhard und Müller- Armack herausgegebenen Buch heißt es:
"Wachstumspolitik bedeutet konkret Förderung der Investitionen durch staatliche Hilfen, Erhöhung der Exportziffern, durch eine verschleppte Aufwertung, staatliche Ausfuhrgarantien und Kreditvergünstigungen, öffentliche Regional- und Strukturpolitik durch gezielte Förderungsmaßnahmen, kurz eine Wiederbelebung des Arsenals der merkantilistischen Wirtschaftspolitik des achtzehnten Jahrhunderts unter völliger Hintansetzung aller Argumente, die seither gegen die einseitige Produzentenorientierung der Wirtschaftspolitik vorgebracht worden sind. Ob die Konsumenten mit den Gütern, die sie für ihr Einkommen kaufen können, wirklich zufrieden sind, gerät in ´Vergessenheit."
Erhard spricht sogar von einer "Entthronung des realen Konsumenten durch fiktive Wachstumsziffern".
Die Voraussage ist eingetroffen. Die angeblichen Nachfolger Erhards in der CDU und CSU- Chef Franz Josef Strauß forderten all die Jahre eine angebotsorientierte Politik. In Amerika versucht Präsident Ronald Reagen (Republikaner) mit dieser Politik wieder die Steigerungsraten vergangener Jahrzehnte zu erreichen - und in England versucht es Frau Margret Thatcher . Doch in allen Ländern blieben die Bemühungen bisher erfolglos; nicht die Wachstumsraten steigen, sondern die Arbeitslosenziffern und Staatsschulden.
In den Wohlstandsländern, in denen Ideen der Angebotstheoretiker ausprobiert wurden, haben die Politiker die Rechnung ohne den Gast gemacht. Der Gast ist zu selten in das Lokal gekommen. da empfahlen die Vertreter der Angebotstheorie, die Gastwirtschaft großzügig auszubauen und zu modernisieren, also zu ínvestieren - danach würden die Gäste kommen und einstweilen schaffe ja der Wirtschaftsausbau Arbeitsplätze. Aber es ist höchst fraglich, ob sich die Leute durch die Renovierung tatsächlich zu häufigeren Besuchen des Lokals verlocken lassen.
Diese Entwicklung hat wieder zu einer Verschiebung des wirtschaftspolitischen Ziels geführt. Nachdem die Wirtschaftspolitiker das Wachstum nicht mehr mit steigenden Bedarf der Konsumenten begründen können, begründen sie es jetzt mit der Notwendigkeit, Arbeitsplätze schaffen zu müssen. Damit wird die Arbeit als solche zum Ziel der ökonomischen Veranstaltung erhoben.
Das ist schon insofern widersinnig, als sich das technische Zeitalter gerade am intensivsten darum bemüht hat, den Menschen von der last der Arbeit zu befreien und die Produktion auf die Maschinen zu verlagern. Dies ist nun so durchschlagend gelungen, dass einfach nicht mehr für alle Arbeit geschaffen werden kann. Denn selbst das phantastischste wirtschaftliche Wachstum könnte die Arbeitslosigkeit in den fortgeschrittenen westlichen Industrieländern nicht mehr beseitigen.
Dreistellige Milliardenbeträge wurden sinnlos vertan, nur um eine Theorie aufrechtzuerhalten. Ökonomen und Politiker arbeiten kopflos auf den vordersten Deichen, während das gesamte Hinterland bereits unter Wasser steht.
Während die Wirtschaftspolitiker unverdrossen ihr Heil im weiteren Wachstum suchen, wachsen bei vielen Bürgern die Zweifel an einer stetig anwachsenden Warenproduktion. Ludwig Erhard dachte über solche Fragen bereits nach - und er fand Antworten. Sie dürften seltsam in den Ohren jener Unternehmer und Unions- Repräsentanten klingen, die sich heute so vehement gegen Arbeitszeitverkürzungen sperren. Erhard schrieb 1972:
"Ich glaube nicht, dass es sich bei der wirtschaftspolitischen Zielsetzung der gegenwart gleichsam um ewige Gesetze handelt. Wir werden sogar mit Sicherheit dahin gelangen, dass zu Recht die Frage gestellt wird, ob es noch immer richtig und nützlich ist, mehr Güter, mehr materiellen Wohlstand zu erzeugen oder ob es nicht sinnvoll ist, unter Verzichtleistung auf diesen "Fortschritt" mehr Freizeit, mehr Besinnung und mehr Muße und mehr Erholung zu gewinnen."
Ähnliche Gedanken hatte Erhard schon 1957 in seinem Buch "Wohlstand für alle" aufgeschrieben. Damals hilet er einen solche Korrektur der Wirtschaftspolitik noch für verfrüht, aber inzwischen sind fast drei Jahrzehnte vergangen. Um so bemerkenswerter, was er 1957 im Schlussabschnitt schrieb:
"Vielleicht - oder ich meine sogar: gewiss - hat viele von uns die notwendige Hinlenkung aller menschlichen Energien auf die Rückgewinnung und Sicherung unserer materiellen Lebensgrundlagen in die irre laufen lassen und dabei ist das rechte Gefühl für die Rangordnung der Werte verloren gegangen. Ob wir die uns unausweichlich gestellte Frage glücklich zu lösen vermögen, wird unser Schicksal ausmachen."
"Unser Schicksal" - wie ernst er dieses Wort gemeint war, beweist die Frage: "Ist nun aber die Situation in der wir stehen, hoffnungslos oder aussichtslos?" Solche Sätze schrieb der damalige Wirtschaftsminister auf der Höhe seines Ruhmes. Obgleich von aller Welt gefeiert, zeigte er keine Zuversicht in den weiteren Gang der Dinge.
Solche Gedankengänge lassen den ganzen Niedergang seiner Nachfolger in die Geistlosigkeit ermessen. Sie benahmen sich wie Goethes Zauberlehrling. Und jetzt fehlt der alte Meister. Erhards damalige Warnung, "dass zwar der Zweck der Wirtschaft kein anderer sein könne, als dem Verbrauch (allerdings nicht nur dem primitiv materiellen) zu dienen, dass er aber nichtv auch zugleich der Sinn unseres Wirtschaftlichen Tuns sein dürfe" - diese Warnung hat nicht gefruchtet.
Ganze Völker sind der Sucht erlegen, "auch die qualitativen werte unserer Umwelt auf eine rechenhafte Formel bringen und sie marktgängig machen zu wollen...." Das dies möglich ist, haben in der Folgezeit Politiker aller Parteien geglaubt. Und sie glauben es immer noch. Das Glück wurde zum Gegenstand der Statistik und seine versprochene Lieferung frei Haus sollte sich durch Wählerstimmen wiederum bar bezahlt machen. Das ist Helmut Kohl auch am 6. März 1983 noch einmal gelungen. zum letzten Mal?
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