Weihnachten 2010
Lieber Herr Staratschek !
Anbei mein Weihnachtsbrief, verspätet auch an Sie.
Dieses Jahr ist mein Weihnachtsbrief in eine eher politische „Schieflage“ geraten und er wurde mehr zur politischen Anekdote aus den bewegten 1968er Jahren. Da der Inhalt vielleicht auch Sie berühren könnte, so möchte ich Ihnen meinen diesjährigen, reichlich verspäteten Weihnachtsbrief nicht vorenthalten. Doch lesen Sie selber, was mich so manchmal in meinem Rentner-Alltag bewegt:
Leise und in ein idyllisches Schneekleid getaucht, geht dieses Jahr zu Ende. In der Politik ist der Streit auf Januar verschoben, die Euro-Krise macht Pause und die Volksseele im Ländle, wie Baden-Württemberg so liebevoll genannt wird, kocht auch nicht mehr so hitzig, seit Heiner Geißler schlichtete und den wütenden Gegnern des Bahnprojektes „Stuttgart 21“ das Gefühl verschaffte, dass ihnen endlich einer zuhört und ihre Argumente ernst nimmt.
Als bekennender Schwabe, und das zu mehr als 100 Prozent, überraschte mich doch, wie intensiv die Volksseele der Stuttgarter und derer drum herum verletzt wurde und auch entsprechend kochte, als es an den Abriss „ihres“ Bahnhofes ging, erbaut vom bedeutenden Architekten Paul Bonatz in den Jahren 1913 bis 1927.
In der Tat, bei dem Bahnprojekt „Stuttgart 21“ geht es nicht um ein „Schnapp-Bahnhöfle“ entlang der schwäb’sche Eisabahna, sondern um einen Hauptbahnhof von großer architektonischer Kühnheit, errichtet aus Natursteinquadern mit großartiger Wirkung und Ausdruckskraft. Ich selber wohnte ja sieben Jahre lang in Stuttgart, zuerst als Pennäler, dann als Student, und als begeisterter Zugfahrer lernte ich Stuttgarts Hauptbahnhof zu lieben und zu schätzen. Und so kann ich nachvollziehen, wie da manchem wackeren Stuttgarter die Zornesröte regelrecht ins Gesicht schoss und manchem Stuttgarter Fraule Tränen über die Wangen liefen, als die riesigen Bagger mit ihrem gierigen Greifmaul anfingen, Steinquader für Steinquader abzureißen, was vor fast 100 Jahren mit viel Schweiß und Liebe aufgebaut wurde. Auch ich muss gestehen, dass ich feuchte Augen bekam, als ich die Bilder vom Abriss sah, und das selbst als Bewohner im hessischen „Ausland“.
Wenn es auch überhaupt nicht zu einem angemessenen Stil eines Weihnachtsbriefes passt, so möchte ich heute nicht nur einige Zeilen, sondern ein ganzes Kapitel schreiben zum Bahnprojekt „Stuttgart 21“, weil es mich in den letzten Wochen und Monaten emotional beschäftigt und innerlich bewegt hat.
Des Volkes Stimme ist wieder da. Nahezu ein halbes Jahrhundert war sie in Baden-Württembergs Metropole verstummt. Die letzten großen Demonstrationen in Stuttgarts Innenstadt gingen auf die Gruppe der so genannten 68er zurück , auf die „Außerparlamentarische Opposition“, die APO. Damals blockierten Tausende von Studenten den Stuttgarter Verkehr. Die Arbeiter kamen nicht rechtzeitig ans Montageband von Mercedes und entsprechend „Haue“ bekamen dann die mit Sitzstreik auf der Straße demonstrierenden Studenten von den Arbeitern ab. Rudi Dutschke als damaliger Studenten-Rebell, obwohl er nichts in schwäbischen Gefilden zu suchen hatte, wurde von einigen Stuttgarter „Granaten-Dackeln“ kopiert, ebenso die Kommunarden der ersten Stunden wie Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann. Fast wöchentlich zogen damals Ende der 1960er verblendete Studenten unter „Ho Chi Minh-Rufen“ durch Stuttgarts Straßen und ihr angehimmeltes Idol „Che Guevara“ durfte auf keinem Plakat fehlen, ebenso wie die Spruchbänder mit der Aufschrift „Unter den Talaren, Muff von 30 Jahren“.
Doch dann verstummten für rund 40 Jahren die augenscheinlichen Proteste im Schwabenländle. Die „stillen Proteste“ äußerten sich lediglich in der steigenden Zahl von Nichtwählern oder zeitweise daran ersichtlich, dass das Kreuzle bei Landtagswahlen zu weit „rechts“ gesetzt wurde. Mit der Begründung „Die da oben machen doch eh was sie wollen“ verhielten sich die mündigen Schwaben wie in einem Wachkoma, einfach teilnahmslos. Doch nun rumort es. Des Volkes Stimme ist wieder da. Jetzt spüren Politiker wieder, wer das Volk ist. Nicht, weil es chic ist, einfach mal dagegen zu sein, sondern weil es wie im Bahnprojekt „Stuttgart 21“ vernünftige und realisierbare Alternativen gibt, die auch noch vom Volk bezahlt werden können. Gerade deshalb ist der Protestfunke auf eine breite Schicht übergesprungen, auf Jung und Alt, auf Arm und Reich. Ein derart solidarisches Schwabenvölkle habe ich bislang noch nicht erlebt.
Auch wenn ich durch „Stuttgart 21“ physisch einige Macken abbekam und dadurch inzwischen fast so alt aussehe wie Schlichter Heinrich Geißler jetzt bereits ist, er geht auf die Neunzig zu und ich erst auf die Siebzig, so waren die Vorführungen dennoch grandios. Wir wissen nun alles über roten Mergel, über Grundgipsschichten, über Gipskeuper und den Anhydrid mit seinen zahlreichen Kristallwassermodifikationen. Dann über die geologischen Mergel-Verwerfungen und deren Bruchsegmentverschiebungen.
Aber wie alles zusammengehört, wissen wir nicht mehr. Und die Techniker betonen in uralter Technikertradition immer wieder, sie haben „alles im Griff“. Was seit der „Titanic“ doch reichlich vermessen ist. Auch hier hieß es, wir haben alles im Griff. Die Titanic ist unsinkbar. Und dennoch ist vor fast genau 100 Jahren dieses technische „Wunderwerk“ des Schiffsbaus gesunken und riss mehr als 1 500 Menschen mit in den Tod.
Wir haben mit „Stuttgart 21“ alles im Griff, aber wie das Milliardengrab „Stuttgart 21“ natur- und sozialverträglich geschaufelt werden kann, das bleibt offenbar ein ewiges Rätsel. .....
Lieber Herr Staratschek !
Anbei mein Weihnachtsbrief, verspätet auch an Sie.
Dieses Jahr ist mein Weihnachtsbrief in eine eher politische „Schieflage“ geraten und er wurde mehr zur politischen Anekdote aus den bewegten 1968er Jahren. Da der Inhalt vielleicht auch Sie berühren könnte, so möchte ich Ihnen meinen diesjährigen, reichlich verspäteten Weihnachtsbrief nicht vorenthalten. Doch lesen Sie selber, was mich so manchmal in meinem Rentner-Alltag bewegt:
Leise und in ein idyllisches Schneekleid getaucht, geht dieses Jahr zu Ende. In der Politik ist der Streit auf Januar verschoben, die Euro-Krise macht Pause und die Volksseele im Ländle, wie Baden-Württemberg so liebevoll genannt wird, kocht auch nicht mehr so hitzig, seit Heiner Geißler schlichtete und den wütenden Gegnern des Bahnprojektes „Stuttgart 21“ das Gefühl verschaffte, dass ihnen endlich einer zuhört und ihre Argumente ernst nimmt.
Als bekennender Schwabe, und das zu mehr als 100 Prozent, überraschte mich doch, wie intensiv die Volksseele der Stuttgarter und derer drum herum verletzt wurde und auch entsprechend kochte, als es an den Abriss „ihres“ Bahnhofes ging, erbaut vom bedeutenden Architekten Paul Bonatz in den Jahren 1913 bis 1927.
In der Tat, bei dem Bahnprojekt „Stuttgart 21“ geht es nicht um ein „Schnapp-Bahnhöfle“ entlang der schwäb’sche Eisabahna, sondern um einen Hauptbahnhof von großer architektonischer Kühnheit, errichtet aus Natursteinquadern mit großartiger Wirkung und Ausdruckskraft. Ich selber wohnte ja sieben Jahre lang in Stuttgart, zuerst als Pennäler, dann als Student, und als begeisterter Zugfahrer lernte ich Stuttgarts Hauptbahnhof zu lieben und zu schätzen. Und so kann ich nachvollziehen, wie da manchem wackeren Stuttgarter die Zornesröte regelrecht ins Gesicht schoss und manchem Stuttgarter Fraule Tränen über die Wangen liefen, als die riesigen Bagger mit ihrem gierigen Greifmaul anfingen, Steinquader für Steinquader abzureißen, was vor fast 100 Jahren mit viel Schweiß und Liebe aufgebaut wurde. Auch ich muss gestehen, dass ich feuchte Augen bekam, als ich die Bilder vom Abriss sah, und das selbst als Bewohner im hessischen „Ausland“.
Wenn es auch überhaupt nicht zu einem angemessenen Stil eines Weihnachtsbriefes passt, so möchte ich heute nicht nur einige Zeilen, sondern ein ganzes Kapitel schreiben zum Bahnprojekt „Stuttgart 21“, weil es mich in den letzten Wochen und Monaten emotional beschäftigt und innerlich bewegt hat.
Des Volkes Stimme ist wieder da. Nahezu ein halbes Jahrhundert war sie in Baden-Württembergs Metropole verstummt. Die letzten großen Demonstrationen in Stuttgarts Innenstadt gingen auf die Gruppe der so genannten 68er zurück , auf die „Außerparlamentarische Opposition“, die APO. Damals blockierten Tausende von Studenten den Stuttgarter Verkehr. Die Arbeiter kamen nicht rechtzeitig ans Montageband von Mercedes und entsprechend „Haue“ bekamen dann die mit Sitzstreik auf der Straße demonstrierenden Studenten von den Arbeitern ab. Rudi Dutschke als damaliger Studenten-Rebell, obwohl er nichts in schwäbischen Gefilden zu suchen hatte, wurde von einigen Stuttgarter „Granaten-Dackeln“ kopiert, ebenso die Kommunarden der ersten Stunden wie Fritz Teufel und Dieter Kunzelmann. Fast wöchentlich zogen damals Ende der 1960er verblendete Studenten unter „Ho Chi Minh-Rufen“ durch Stuttgarts Straßen und ihr angehimmeltes Idol „Che Guevara“ durfte auf keinem Plakat fehlen, ebenso wie die Spruchbänder mit der Aufschrift „Unter den Talaren, Muff von 30 Jahren“.
Doch dann verstummten für rund 40 Jahren die augenscheinlichen Proteste im Schwabenländle. Die „stillen Proteste“ äußerten sich lediglich in der steigenden Zahl von Nichtwählern oder zeitweise daran ersichtlich, dass das Kreuzle bei Landtagswahlen zu weit „rechts“ gesetzt wurde. Mit der Begründung „Die da oben machen doch eh was sie wollen“ verhielten sich die mündigen Schwaben wie in einem Wachkoma, einfach teilnahmslos. Doch nun rumort es. Des Volkes Stimme ist wieder da. Jetzt spüren Politiker wieder, wer das Volk ist. Nicht, weil es chic ist, einfach mal dagegen zu sein, sondern weil es wie im Bahnprojekt „Stuttgart 21“ vernünftige und realisierbare Alternativen gibt, die auch noch vom Volk bezahlt werden können. Gerade deshalb ist der Protestfunke auf eine breite Schicht übergesprungen, auf Jung und Alt, auf Arm und Reich. Ein derart solidarisches Schwabenvölkle habe ich bislang noch nicht erlebt.
Auch wenn ich durch „Stuttgart 21“ physisch einige Macken abbekam und dadurch inzwischen fast so alt aussehe wie Schlichter Heinrich Geißler jetzt bereits ist, er geht auf die Neunzig zu und ich erst auf die Siebzig, so waren die Vorführungen dennoch grandios. Wir wissen nun alles über roten Mergel, über Grundgipsschichten, über Gipskeuper und den Anhydrid mit seinen zahlreichen Kristallwassermodifikationen. Dann über die geologischen Mergel-Verwerfungen und deren Bruchsegmentverschiebungen.
Aber wie alles zusammengehört, wissen wir nicht mehr. Und die Techniker betonen in uralter Technikertradition immer wieder, sie haben „alles im Griff“. Was seit der „Titanic“ doch reichlich vermessen ist. Auch hier hieß es, wir haben alles im Griff. Die Titanic ist unsinkbar. Und dennoch ist vor fast genau 100 Jahren dieses technische „Wunderwerk“ des Schiffsbaus gesunken und riss mehr als 1 500 Menschen mit in den Tod.
Wir haben mit „Stuttgart 21“ alles im Griff, aber wie das Milliardengrab „Stuttgart 21“ natur- und sozialverträglich geschaufelt werden kann, das bleibt offenbar ein ewiges Rätsel. .....
Die Geologie von Stuttgart 21 |
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